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Im Auge des Beschauers

Vision und Intention eines Künstlers lassen sein Werk entstehen. Doch wer ihm begegnet, erschafft es sich neu, hört, liest oder sieht es mit eigenen Empfindungen, Erfahrungen, Assoziationen. Jeder Leser erfährt im fremden auch einen eigenen Text, jeder Hörende antwortet mit Schwingungen seines Gefühls auf die Klangwelt einer Komposition. Und wer ein Bild betrachtet, konfrontiert es mit den Aberhunderten von Eindrücken, die die Netzhaut empfing und an das Privatarchiv der Sinne und erworbenen Wissens weitergab. Ein Bild ist ein Bild ist ein Bild ist ein Bild ...jedes Einzelne, auch aus dem Verbundsystem einer Reihe oder Serie, ist für den der es sieht, ein Appell an Sensibilität und Erinnerung.

Bilder von Christoph Kern: das erste, dem ich begegne, zeigt dem Blick Häuser, die erst der zweite als bloße Würfel erkennt. Sie stehen, vereinzelt —verloren, in der unbegrenzten Weite einer von farbenträchtigen Nebeln verhüllten Landschaft. Wahrnehmung aus der Höhe, ein Blick aus dem Flugzeugfenster vielleicht; ist das, was ich sehe, ein Anbeginn irgendwo in der Wüste, sind es Reste eines Untergangs? Nein sagt der Künstler, es ist ein Zustand in der Reihe meiner Untersuchungen zum Thema „Wie funktioniert Malerei?“. Nun lerne ich „Serien“ kennen; Veränderungen eines —in unterschiedlichen Konstellationen— immer gleichen Ausgangsprinzips, das aus den von mir für Häuser erkannten Würfeln besteht.

Nichts als Würfel, die die inhaltlich ungebundene Autonomie des Bildes behaupten; aber mir erzählen sie, ob kompakt und gleichsam bodenständig, ob Schatten werfend oder hinschwindend in Luft, ob in Treibsand versinkend oder in ozeanischen Unermeßlichkeiten, immer auch Geschichten. Der Kubus —Schachfigur auf dem jeweils frei gewählten, doch diszipliniertenvariierten Farbfeld des Malers— wird zum Akteur in spannenden Bilderfolgen. Die Figuration ist bekannt, ihre Geschichte unendlich. Verstehbar wird sie im dokumentierten Prozeß.

Ein Bild beginnt mit dem ersten Pinselstrich —und der erste Strich kann in der Entscheidung des Künstlers schon d a s Bild sein. Jede Addition, jede Veränderung, jede neue Farbschicht schafft ein neues Bild, das alle vorausgegangenen in sich begräbt. Nur der Künstler weiß, was er hinter sich läßt, wenn er weiterarbeitet und für das entstehende Neue das schon Geschaffene zerstört. Der als „Übermaler“ bekannt gewordene Wiener Maler Arnulf Rainer hat aus diesem Vorgang ein mythisches Konzept gemacht. Niemand außer ihm weiß, was die dunkle Fläche des letzten Zustandes verschließt. Christoph Kern will Beides: gültige Bild-Aussagen gewinnen und die in ihnen verborgenen —und im Prozeß verworfenen— Möglichkeiten bewahren. Deshalb hält er Bild-Stationen im Foto fest —einzelne, die ihm als Bild gültig waren. Es sind jene gemalten Zustände, die die Entscheidung —und die Macht— des Künstlers über die vom Computer vorgeführten Variationsmöglichkeiten der programmierten Konfiguration bezeugen. Das Suchbildprogramm im technischen Hilfsapparat verdankt sich der forschenden Ratio eines Künstlers, der den Wirkungsgesetzen seines Schaffens auf die Spur kommen möchte; im gemalten Bild —mit den klassischen Mitteln des Handwerks, Pinsel und Farbe— äußert sich das malerische Temperament. Es hat sich —frühere Arbeiten bezeugen das— längst in der Arbeit bestätigt, auch in der Verarbeitung von Sujets aus der gegenständlichen Welt, in einem kräftigen, nuancierten, spontanen malerischen Gestus. Faszinierend zu sehen, wie er sich mit Variationen des immergleichen Sujets (etwa den Ausschnitten einer Wendeltreppe) allmählich auf den Erkenntnisweg machte, der zur konsequenten Erforschung in seiner jetzigen Arbeitsphase führte.

Die Kapitel seiner Bild-Geschichte sind mit Werkstatt-Kürzeln verschlüsselt. Die haben ihre Aufgabe im Ordnungssystem des Künstlers, nähren keine bildtitelsüchtige Vorstellungskraft. Aus Verständigungsgründen muß sich auch der Betrachter daran halten. Nehmen wir die Sequenz mit der irritierenden nüchternen Bezeichnung Bak - e1. Sechs Bild-Stationen bezeugen im Fotodokument den Werdegang eines Gemäldes, jede ein Bild für sich. Die letzte ist meine persönliche Wahl —und das Ende einer „Geschichte“. Zwei Würfel sind in dieser letzten „Iteration“, dieser letzten „Wegbeschreibung“, übrig geblieben; anfangs standen sie klein hinter größeren Kubus-Monumenten, welche, farbig sich blähend, in immer neuen Zuständen immer mehr Bedeutung im Bild gewannen: rot verkleidet, blau gehärtet, kantig umrissen, kompakt und konzentriert. Aber jene zwei blieben, fast unverändert, durch alle Sequenzen durch beharrlich an ihrem Platz, indes die Bedeutungsträger sich entmaterialisierten. Und beherrschen am Ende das Bild: zwei Pole im Spannungsfeld einer Fläche, die von untergegangenen Figurationen und Farbigkeiten vibriert und fruchtbar ist für neue Verwandlungen, für die Erforschung verborgener Tiefen. „Atlantis“ signalisiert ein mythischer Code, der jeden Anblick mit Ein- und Rückblick befrachtet. Indes begibt der Kunstverstand sich auf die Suche nach Analogien in den Intentionen des Malers.

Das „Funktionieren der Malerei“, wie der Künstler es nennt: wer ein Bild anschaut, erst recht eines, das —greifbar in Personnagen, Staffagen, Paysagen, Objekten— eine Geschichte erzählt, gibt sich selten Rechenschaft über die Wirkungsgesetze, die der Künstler erforscht und denen er sich selbst unterwirft. Tizians Rot und Veroneses Grün sind —neben den symbolischen Bedeutungen, die Farben in „erzählender“ Malerei hatten— auch Bedeutungsträger in Aufbau und Ausdruck der Bildfläche. Mit dem Impressionismus, dessen Bildwelt uns so spontan, farb- und lichttrunken anmutet, begannen die systematischen Untersuchungen der Wirkung „reiner Farben“, ihrer Strukturen in Punkt- und Pinselschlag, ihrer kontrastierenden Wirkungen in großen Flächen, ihrer Erprobung am immer gleichen Gegenstand (wie etwa den „Heuhaufen“ Monets) oder in schierer geometrischer Abstraktion —seit Mondrian, im Bauhaus und hin bis zur Op Art eines Vasarely oder Gerstner. Christoph Kern untersucht die Wirkungen künstlerischer Bildaussagen nicht in der reinen Abstraktion; er bleibt ein Maler, der dem Impetus seiner Hand vertraut, —und sogar der „Gegenständlichkeit“, die sich —stellvertretend für alle anderen Objekte— im Würfel manifestiert. Das macht die Faszination seiner Bilder und seiner Bildserien aus: ein systematisches Experimentierfeld für den Künstler— und eine Geschichte von Suchbildern und optischen Festen für das Auge des Beschauers.

Lore Ditzen